Kunst. Handwerk. Musik.

UNESCO Immaterielles Kulturerbe Orgelbau und Orgelmusik

Artikel von Prof. Dr. Michael Gerhard Kaufmann



Am 7. Dezember 2017 hat die UNESCO auf ihrer Tagung im südkoreanischen Jeju „Orgelbau und Orgelmusik“ unter dem Titel „Organ Craftsmanship and Music“ in ihre „Liste des Immateriellen Kulturerbes der Menschheit“ aufgenommen. Bereits am 12. Dezember 2014 war der Eintrag in das „Verzeichnis des immateriellen Kulturerbes der Bundesrepublik Deutschland“ erfolgt.


Neben der Tradition und der Innovation der deutschen Orgelkultur in ihrer etwa 1.250-jährigen Geschichte hatten die lebendige Vielfalt und die zahlreichen Aktivitäten der sich in Deutschland heute für das Instrument engagierenden Menschen die Gutachter überzeugt. Damit wurden das Handwerk des Orgelbaus und die Kunst des Orgelspiels – und indirekt das Musikinstrument Orgel – offiziell von einer der bedeutendsten transnationalen Organisationen ausgezeichnet.


Derzeit gibt es in Deutschland etwa 400 Orgelbaubetriebe mit etwa 2.000 Mitarbeitern und 180 Auszubildenden sowie etwa 3.500 hauptamtliche und mehrere zehntausende ehrenamtliche Organisten. Ungefähr 50.000 Orgeln sind hierzulande im Einsatz und erklingen regelmäßig in Kirchen, Konzertsälen, Salons, Wohnzimmern, Universitäten, Schulen, Museen oder als Drehorgeln auf den Straßen und als Musikautomaten auf Jahrmärkten. Die nachhaltige Sicherung und Fortentwicklung der Berufsfelder
und der Instrumente gleichermaßen ist eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe, für deren Umsetzung es ideeller, personeller und finanzieller Ressourcen bedarf. Fünfzig Generationen von Orgelbauern und Organisten haben seit der Karolingischen Renaissance im 8./9. Jahrhundert sich um das „Wissen. Können. Weitergeben.“ bemüht und durch alle Epochen Orgelbau und Orgelmusik zu kunsthandwerklichen und künstlerischen Höhen geführt, wie man sie nirgendwo sonst auf der Welt finden kann.

 

Die restaurierten, teilrekonstruierten oder auch authentisch erhaltenen Instrumente aus dem Mittelalter, der Renaissance, dem Barock, der Romantik, der Orgelreform bzw. Orgelbewegung bis zum Stilpluralismus in der Gegenwart, die verbunden sind mit Namen wie Arnolt Schlick, Jörg Ebert, Arp Schnitger, Andreas Silbermann, Gottfried Silbermann, Johann Andreas Silbermann, Gottfried Heinrich Trost, Zacharias Hildebrandt, Joseph Gabler, Georg Friedrich Schmahl, Eberhard Friedrich Walcker, Georg  Friedrich Steinmeyer, Paul Ott, Jürgen Ahrendt, Philipp Klais und anderen legen Zeugnis davon ab; ebenso die Kompositionen eines Hans Buchner, Michael Praetorius, Dietrich Buxtehude, Johann Sebastian Bach, Carl Philipp Emanuel Bach, Felix Mendelssohn Bartholdy, Joseph Gabriel Rheinberger, Max Reger, Paul Hindemith, Gerd Zacher, Wolfgang  Rihm, Wolfram Graf, Dominik Susteck oder Isabel Mundry, Liselotte Kunkel und weiteren. Unzählbar und unnennbar sind die Interpreten aus Geschichte und Gegenwart, die auf höchstem Niveau immer wieder in unerhörten Klängen musizierten und musizieren.   

 

In diesem Gefüge von „Wissen. Können. Weitergeben.“ markiert die Orgelstadt Waldkirch eine besondere Position, denn der Orgelbau wird hier kontinuierlich seit mehr als zweihundert Jahren gepflegt. Während der sogenannten Revolutionskriege ist 1799 Matthias Martin (1765-1825) in Waldkirch ansässig geworden und errichtete in den Kirchen der näheren Umgebung solide Instrumente, die klanglich den ausklingenden Barock in seiner süddeutschen Variante mit elsässischen Einflüssen repräsentierten. Seine drei Söhne Ludwig Martin (1788-1822), Franz Josef (1803-1837) und Martin Martin (1805-1837) setzten das Gewerk fort und griffen klassizistische und frühromantische Strömungen auf.

 

Seit dem 19. bis in die Mitte des 20.  Jahrhunderts wurden mechanisch betriebene Drehorgeln und pneumatisch angesteuerte Orgelautomaten der Firmen Bruder, Ruth, Gavioli, Limonaire, Frères, Frei und Weber aus der Stadt in die ganze Welt geliefert. 1887 eröffnete Johann Franz Anton Kiene (1845-1908) seine Werkstatt in Waldkirch und baute Instrumente im Stil der Spätromantik. Sein Sohn Rudolf Kiene (1888-1971) griff die neuen Strömungen von Orgelreform und Orgelbewegung auf. Traditionelle und innovative Orgelkonzepte im Bereich von Konservierung, Restaurierung, Rekonstruktion und Neubau bestimmen bis in die Gegenwart die Arbeit der heutigen Waldkircher Orgelfirmen Fleck, Jäger & Brommer, Reuschel, Schneider und Stützle. Getragen wurde und wird dieses „Wissen.Können. Weitergeben.“ nicht zuletzt durch eine Vielzahl von Mitarbeitern, die als Spezialisten die Techniken des Handwerks bis heute beherrschen und täglich neu umsetzen. Zahlreiche Familien standen und stehen auf diese Weise in engem Kontakt zur Orgel und können seither von der Arbeit in ihrem Handwerk leben.


Bürgerschaftliches und kommunales Engagement in Waldkirch macht sich diese Verortung der Orgel zu Nutze, so dass sich ein reiches kulturelles Leben um das Instrument in seiner Geschichte und Gegenwart mit einem Höchstmaß an Erlebenswert entwickeln konnte: In der Stadt lassen sich mit einer interaktiv geführten App Orgelklangorte erkunden. Die Orgelsammlung im Elztalmuseum und im Orgelbauersaal der Waldkircher Orgelstiftung laden Alt und Jung zum Verweilen und Hören ein. Das alle drei Jahre stattfindende Klang- und Orgelfestival führt Menschen aus Nah und Fern zusammen. Die Orgelköche sorgen für einen kulinarischen Genuss, der den musikalischen ergänzt. Die Waldkircher Orgelstiftung mit ihrem Archiv sammelt und vermittelt gleichermaßen Orgelkultur.


Mit ihren bisherigen und zukünftigen Projekten, der „Straße der Waldkircher Orgeln“, der „Deutsche Orgelstraße“, den  „KönigsKindern“, der Teilnahme am bundesweiten „Jahr der Orgel 2021“, der in Planung befindlichen „Orgelakademie am Oberrhein“, wirkt sie nachhaltig für das Orgelwesen.


Für alle, die diesen Orgel-Kosmos mitgestalten und für zukünftige, darin wirkende Generationen ist mit dem UNESCO-Eintrag ein klarer Auftrag verbunden, der bei aller Verantwortung, die ein solch bedeutendes Erbe immer auch mit sich bringt, eine Ehre darstellt: Orgelbau und Orgelmusik als immaterielles Kulturerbe der Deutschen und der Menschheit bedürfen eines perspektivischen Wirkens, das sich wie folgt zusammenfassen lässt:


1. Schutz auf nationaler und internationaler Ebene
2. Akzeptanz und Respekt vor den handwerklich-technischen und künstlerisch-musikalischen Leistungen der Orgelbau und Orgelmusik ausübenden Menschen
3. Bereitstellung von ausreichenden Kapazitäten zum Erwerb von Fähigkeiten und Fertigkeiten sowie Erweiterung der Möglichkeiten zur Aus- und Fortbildung von Orgelbauern und Orgelspielern
4. Förderung einer verstärkten Bildung des Bewusstseins um den Wert des Kulturguts Orgel, für dessen Erhalt Mittel privater und öffentlicher Geldgeber eingesetzt werden müssen

5. Bereitstellung von Geldern durch den Staat zur Restaurierung und Modernisierung bedeutender Orgeln durch den Staat sowie durch Stiftungen zum Neubau von zeitgemäßen Orgeln

 

Der Wandel in der bundesdeutschen Gesellschaft in den letzten Jahrzehnten hat bereits jetzt Auswirkungen auf die Orgelkultur in Deutschland. Die bereits vorgenommenen und die kommenden Schließungen von Hunderten von Kirchen in Deutschland sind nur ein sichtbares Symptom der Veränderungen. Der Verlust der Bindung der Gesellschaft an traditionelle Werte tangiert nicht nur die christlichen Konfessionen, sondern auch den Sektor der klassischen Musik und dessen medialen Markt.

 

Die Folgen der sogenannten Flüchtlingskrise und die Zuwanderung von Menschen aus anderen Ländern führen mittelfristig zu Umwälzungen ganzer Schichten in der Bevölkerung. Die bisher durch die Kirchenmusik geleistete kulturelle und zugleich soziale Arbeit, die im Verhältnis zum finanziellen Aufwand ungleich größere Wirkung zeigte und zeigt, wird vielerorts aufgrund des prognostizierten Rückgangs der Mitglieder in den Kirchen selbst nicht mehr in dem bisherigen Umfang möglich sein und daher andere Formen annehmen müssen. Auch noch so immense Summen an Geldern können die erzielten Effekte nicht kompensieren, wie sie über eine Einbindung der Menschen in musikpädagogische Erziehungskonzepte oder in musikalische Ensembles wie Chöre oder Orchester an Kantoraten sowie mit diesen kooperierenden Institutionen erreicht werden.

 

Es wäre an dieser Stelle noch vieles zu benennen, was den rasant auf uns zukommenden gesellschaftlichen Umbruch betrifft. Von diesem werden die allgemeine Orgelkultur, der Orgelbau und die Orgelmusik in der nächsten Zeit noch mehr betroffen sein, als sie es in manchen Landstrichen schon sind. Umso mehr ist es notwendig, dass durch den Staat (Bund, Länder, Kommunen) kontinuierlich Gelder bereitgestellt werden, die zur Sicherung und Bewahrung sowie zur Fortsetzung dieser deutschen Orgelkultur eingesetzt werden können.

 

Während Politiker aus Stadt, Landkreis, Bundesland oder auch Bund sich vor allem für einzelne Instrumente einsetzen, ist es doch vor allem die Stetigkeit der Förderung, die eine Entwicklung in die gewünschte Richtung möglich machen kann. Diese Verlässlichkeit schafft zusätzliche Perspektiven in Zeiten des allgemeinen Infrage-Stellens überlieferter kultureller und ethischer Werte in der Gesellschaft. Daher bedarf es vor allem dauerhafter Förderungen von zentralen Stellen, wie den Ländern oder dem Bund. Allerdings haben die Länder ihre auch für Orgelmaßnahmen zur Verfügung stehenden Mittel in der Denkmalpflege zumeist deutlich reduziert oder ganz gestrichen. In manchen Bundesländern hat die Denkmalbehörde mittlerweile nur noch eine verwaltende Funktion. Hier muss nun der Bund einspringen, der ja Deutschland – und damit sich selbst – mit dem UNESCO-Eintrag von Orgelbau und Orgelmusik auf internationaler Ebene als Kulturstaat profiliert hat. Dadurch ist er auch die Verpflichtung eingegangen, dieses Kulturerbe auf allen Ebenen aktiv zu bewahren.


Im Vorfeld bzw. während der Bewerbung zum UNESCO-Eintrag stellte der Deutsche Bundestag aus seinem Haushalt Gelder für zunächst ein spezielles Orgelförderprogramm zur Verfügung, das mittlerweile in das allgemeine Denkmalförderprogramm integriert worden ist. Seit dem Jahr 2016 stehen daher für die Sanierung und Modernisierung von national bedeutsamen Orgeln Fördermittel bereit, die über die Staatsministerin für Kultur und Medien, Prof. Monika Grütters, in Berlin projektbezogen beantragt werden konnten. Bundesweit konnten daran zahlreiche öffentliche und kirchliche Gemeinden partizipieren und einen Teil der meist hohen Kosten für die Wiederherstellung ihrer Orgeln so decken. Diese staatlichen Subventionen erleichtern es, den flächendeckenden Erhalt von musikalisch und historisch wertvollen Orgeln zu sichern.

 

In Baden-Württemberg wurden bisher u.a. die Instrumente in der Schlosskirche Ludwigsburg (Schmahl-Orgel von 1749), in St. Sebastian Donaueschingen-Hubertshofen (Mönch-Orgel von 1898 aus der Synagoge Konstanz) oder in der Christuskirche Mannheim (Steinmeyer-Orgel von 1911, größtes Instrument der Badischen Landeskirche) gefördert. Aber letztlich ist es klar, dass die Institutionen, welche die Orgelkultur tragen, die Zukunft eben dieser Orgelkultur zu großen Teilen selbst in die Hand nehmen müssen, um ein dauerhaftes Fortbestehen dieses ausgezeichneten Kulturgutes gewährleisten zu können.

 

Der Wandel in kirchlichen und politischen Gemeinden ist allgemein und wird die Strukturen umformen. Ihr finanzielles Engagement werden diese Institutionen in Zukunft kaum noch in gewohntem Umfang aufrechterhalten können. Ähnlich wie andere kulturelle Institutionen, bspw. die Deutsche Stiftung Denkmalschutz (DSD), braucht die Orgelkultur zukünftig Vertreter mit direktem Zugang in die Politik, denn es wird nur durch den zielgerichteten Einsatz einer solchen Person möglich sein, die zukünftig zu bewältigenden Aufgaben zu meistern und die Restaurierung von historischen Orgeln sowie den Neubau von zeitgemäßen Orgeln dauerhaft auf einem hohen Niveau zu halten.

 

Ein erster Schritt dazu ist erfolgreich gemacht: Im Zuge der ReMeisterung mehrerer Berufe im Handwerk wurde auch für den Orgelbau diese Qualifikationsstufe wieder eingeführt, nachdem man sie vor einigen Jahren abgeschafft hatte und seither mit denn daraus resultierenden negativen Konsequenzen ähnlich wie in anderen Gewerken zu kämpfen hatte. Die Darstellung der Situation soll nicht erschrecken, aber wachrütteln. In unserer heutigen Zeit und in einer sich immer weiter individualisierenden Gesellschaft erhält nur der Gehör, der es sich verschafft. Orgelfreunde leben alle für ein Instrument, das mit leisen und mit lauten Tönen die Menschen begeistern kann. Und gerade deshalb lohnt es sich, darüber nachzudenken, wie man über diese spontane Begeisterung auch eine kontinuierliche Bindung herstellen kann.

 

Dass es sich die von der Waldkircher Orgelstiftung (WOS) initiierte Deutsche Orgelstraße (DOS) mit ihren Projekten zur Aufgabe gemacht hat, Synergien zwischen den bestehenden Organisationen, den Orgelbauern und den Orgelmusikern zu schaffen sowie diese für die Politik und die Menschen in der Bundesrepublik Deutschland nutzbar zu machen, ist eine sehr positive Entwicklung, die es verdient hat, tatkräftig unterstützt und dauerhaft gefördert zu werden.

 

Abschließend soll hier das Zitat aus einer Rede stehen, die Bundespräsident Richard von Weizsäcker bei der Entgegennahme der Denkschrift „Kultur in Berlin“ am 11. September 1991 gehalten hat. Darin heißt es: „Kultur kostet Geld. Sie kostet Geld vor allem auch deshalb, weil der Zugang zu ihr nicht in erster Linie durch einen privat gefüllten Geldbeutel bestimmt sein darf. […] Denn Kultur ist kein Luxus, den wir uns leisten oder auch streichen können, sondern der geistige Boden, der unsere eigentliche innere Überlebensfähigkeit sichert. Und Kultur hängt auch von Personen ab, die sie ins Werk setzen sollen. Es ist ein zentrales öffentliches Interesse, dass Leute, die das können […], die notwendigen Entfaltungsmöglichkeiten behalten oder bekommen. Und darüber hinaus auch, dass in möglichst großer Dichte und Qualität solche Menschen […] gewonnen werden, wenn sie bereit sind, sich zu engagieren, damit sie [...] ihre Kreativität und ihre Kenntnisse wie ihre Weltläufigkeit in den Dienst der Kultur […] des ganzen Landes stellen.“


Ganz in diesem Sinne gehe ich als Autor der UNESCO-Anträge davon aus, dass der Erfolg des UNESCO-Welterbe-Eintrags uns sowohl Grund zur Freude als auch erneuter Anlass zu weiterem Engagement für „unser“ Instrument sein kann. Das gilt nicht nur für die Kirchen als Förderer der Orgelkultur, sondern auch für öffentliche und private Sponsoren sowie v.a. auch für die Politik, gegenüber denen immer wieder die Karte des UNESCO-Eintrags als zusätzlicher Trumpf gespielt werden darf. Denn alle Initiativen um die Orgel verdienen weitreichende Unterstützung, sind sie doch im Sinne der UNESCO-Definition erlebbares  Zeugnis alten und neuen Wissens, Könnens und Weitergebens – und das seit fünfzig Generationen.

Prof. Dr. Michael G. Kaufmann, Orgelsachverständiger, Annweiler am Trifels.

 

Weiterführende Informationen

UNESCO Immaterielles Kulturerbe "Orgelbau und Orgelmusik": LINK

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